Fell gewordenes LSD

Look, it’s the Band! – Der Engländer rüttelte seine Freunde am Kragen und schob ihre geschwollenen Köpfe in unsere Richtung.

Die Band, das waren wir: Ich, mein Bodyguard Ray, unser Lead Tim, den Gitarrenkasten geschultert, sein Fotograf Speedy, die Kameratasche geschultert, und unser slawischer Booker Zwady, der seinen Booker-Hut schief trug. Die Bude war vollgestopft mit Engländern, die den zwei einzigen Frauen im Laden abwechselnd an der Karaoke-Maschine einheizten. Der Schweiß lief die Wände runter und tropfte von der Decke. „Das ist mein Laden.“ Tim grinste, stellte seine Gitarre auf den nassen Boden und zog sich die Jacke aus.

Doch ich muss früher anfangen. Viel früher. Ein ganzes Jahr früher, oder zwei. Und gleich etwas klar stellen: Für mich gibt es nur ein einziges Kriterium, das ein Schriftsteller erfüllen muss, um in meinen Kanon der ganz Großen aufgenommen zu werden: Nach der letzten Seite eines Buches muss ich das unbedingte Bedürfnis verspüren, mit dem Autor einen heben zu gehen. Da gibt es dann noch einige Abstufungen: Autoren, mit denen man ein paar Gläser nehmen möchte, die, mit denen man einen guten Abend verbringen will und die Königskategorie, die, mit denen man abstürzen will, hart, ein Verbrüderungsbesäufnis Dylan Thomas‘schen Ausmaßes. Aber im Grunde stelle ich keine weiteren Anforderungen an ein Buch. Und selbst das kriegen nur wenige Autoren hin. Bukowski, Thompson, Hemingway, klar, Amis, Bolaño, Nizon, gut, heute vielleicht noch Marc Fischer, Glavinic, Politycki, aber dann wird es schwach, dünn bestenfalls, wenn man die raus streicht, die sich das ganze schon durch die dicke Erdschicht mit angucken müssen.

Mit manchen Autoren geht das sogar klar, Buchmessen und Lesereisen sei Dank. Pascal Mercier war ein guter Weinpartner, gemeinsam ließen wir Pessoa wieder auferstehen, der gefühlt den halben Abend neben uns an der Bar saß, Bernhard Schlink hingegen war der Horror. Er spannte die Sehnen an seinem Hals bei jedem Schluck von seinem gepanschten Bier, als wolle er einen Trichter Formen. Ging trotzdem nichts rein. Träumen musste ich aber lange von ihm. Nichts Gutes. Der Sehnenmann. Die Bücher, ganz nebenbei, sind auch scheiße.


Aber manche Autoren bringen es auch heute noch, dass nach ihrer Lesung die Hälfte der Leute angewidert rausstürmt und die andere Hälfte ein Autogramm tätowiert haben will. Einer davon ist Tim. Er tourt durch die Welt, jeden Tag, jede Woche in einem neuen Zimmer, in einem anderen Hotel, in einer fremden Stadt, in einem entfernten Land auf einem unbekannten Kontinent; zuletzt Afrika. Dann nimmt er sich ein paar Monate, schreibt ein Buch drüber und geht auf Lesereise, wieder Zimmer und Hotels, diesmal allerdings nicht in Kairo oder Kampala sondern in Paderborn oder Bielefeld, dem Purgatorium für Weltreisende.

Das war schon vor zwei Jahren so, als er seinen „Jesus vom Sexshop“ veröffentlicht hatte und zu einer Lesung bei uns in Paderborn war. Nach seinem Auftritt gingen wir noch mit einigen Leuten in einen feinen Laden, der so gar nicht zu ihm passte. Er war der Einzige, der rauchte, also begleitete ich ihn öfters nach draußen. „Ich bin verliebt“, sagte er damals, bevor er sich eine Zigarette ansteckte, „das hört niemals auf, egal wie alt du wirst, dieses Gefühl frisch verliebt zu sein ist immer dasselbe“, er verteilte den Rauch in den klaren Paderborner Himmel und redete von seiner Zeit als Reporter in Westfalen. Doch irgendwie war das Gespräch verklemmt, unterschwellig gehemmt, was vor allem an mir lag. Am Ende gingen wir auseinander, verabschiedeten uns auf der Straße und man spürte, dass Tim noch nicht ins Bett wollte. Doch da saß ich schon im Bus. Ich brüllte vor mich hin. Fährst du nochmal zurück und klingelst im Hotel? Scheiße, dann war ich schon im Bett und Tim schon wieder von der Restwelt verschluckt. Das hatte ich mir anders vorgestellt.


Zwei Jahre später dann die Chance: Tim wieder in der Stadt, wieder in dieser Buchhandlung mit der besten Buchhändlerin der Stadt, die uns wieder einen Platz am Tisch fürs After-Lesungs Dinner reservierte. Denn dieses Mal nahm ich Verstärkung mit: Meinen Bodyguard Ray, Saufkumpan und Stichwortgeber, seines Zeichens stark am Glas und schwach im Sicherheitsgeschäft, da er bei erhöhtem Pegel ständig Probleme anzieht wie ein spleeniger Magnet.

Wir warteten vor dem Laden. „Er muss gleich kommen“, beruhigte uns die beste Buchhändlerin. Aber wir waren tiefenentspannt. Wir hatten uns verschiedene Szenarien zurecht gelegt. Wenn alles nach Plan lief, würde der Abend die verschiedenen Stufen unserer Eskalationsskala für zugereiste Nicht-Paderborner durchlaufen und dann entweder im Suff, im Chaos oder in den Armen hässlicher Frauen enden. Wir hatten also alles im Griff. Und da kamen Sie auch schon. Tim, dieses Mal in Begleitung seines persönlichen Fotografen und Lebensabschnittsgefährten aus afrikanischen Tagen, Speedy, der mal vor ihm, mal hinter ihm und mal durch eine Fensterscheibe halbgestellte Fotos von ihm schoss, mal ohne Zigarette, meistens mit. Sie gingen an uns vorbei. Tim erkannte mich nicht. Noch nicht.


Die Lesung war typisch Tim. Er erzählte ein bisschen, las ein paar Zeilen, sang ein paar Songs. Es ging um fellgewordenes LSD, Malaria, sehr schwarze Menschen, seine Lebensgefährtin, seine afrikanische Geliebte. Vintage Tim. Man hätte Stunden weiter hören können, aber im Hintergrund wedelten schon die Buchhändlerinnen, die gerade ihre dritte Überstunde begonnen hatten und mit ihren Fingern vor ihren Hälsen rumschnitten, was wohl bedeuten sollte, dass sie sich gleich umbringen würden, falls Tim noch weiter lesen sollte. „Dann würd ich sagen, wir machen erstmal ’ne Pause und betrinken uns alle und danach lese ich noch was aus meinem neuen Manuskript“, konterte Tim. Die Buchhändlerinnen weinten, die Hälfte des Publikums jubelte, die andere Hälfte verließ fluchtartig den Laden. „Meint er das ernst, was er da erzählt?“, hörte man von einer Frau im Vorbeigehen, „der ist doch völlig zugekokst!“, meinte eine Oma mit weißem Haar und sandfarbenem Blouson zu ihrer Freundin, die gerade aus dem Wachkoma getropft war. Der Rest rieb sich die Hände und zurück blieb eine eingeschworene Masse, die bereit war, sich von Tim zu etwas Besonderem Formen zu lassen. Etwas, das einem im Gedächtnis bleibt und das Blatt, auf dem Paderborn steht, für einen Abend in der Mitte zerreißt.

Mein Bodyguard Ray und ich gaben uns noch was von dem Wein, der Abend würde gut werden. Tim fing wieder an zu lesen und entschuldigte sich sofort. Die Lesung müsse er gleich beenden, er hätte schon zu sehr überzogen. So ein Kleingeist. Aber das ist auch Paderborn, das hatten wir eingerechnet. Das würden wir später wieder gut machen. Mehr denn je, mussten wir für Paderborn gerade stehen, das war uns klar. Außerdem las er noch die beste Story aus dem neuen Buch, Die Moschee, was mich milde stimmte. Nach der Lesung brachen wir langsam auf. Ich schoss noch ein paar Fotos für die Zeitung, die dachte, sie hätte mich hergeschickt. Und auf ging’s. Wieder in denselben Laden wie vor zwei Jahren.

Es gab Schinken, Frikadellen, Datteln im Speckmantel, Lachs, Würstchen. Ein Paradies für Tim, der Vegetarier ist, es sei denn man mischt ihm was unter. „Könnten Sie mir noch ein paar Eier in die Pfanne hauen“, bat er die Kellnerin. „Tut mir Leid, unser Koch hat leider schon Feierabend gemacht.“ Sie hatte die Bitte nicht verstanden. Eier, das würden sie doch hinbekommen, dachte sich Tim. Würden sie nicht. Aber ich half ihm mit meiner Gemüsesuppe aus und einem Häufchen Käse, das ich von den verschiedenen Platten auf dem Tisch zusammenfegte. „Du warst doch vor zwei Jahren schon dabei, oder?“ Er hatte mich nicht vergessen. Genau. „Und du warst vor zwei Jahren schon verliebt, war das deine jetzige Frau, mit der du auch in Afrika warst?“ Tim überlegte. „Ja, das muss sie schon gewesen sein. Hatte ich damals schon davon erzählt?“


Die ersten zwei Weine lockerten unsere Zungen, Speedy erwies sich schnell als famoser Gesprächspartner und Bruder im Geiste, während Tim jeden Schluck von seinem Wein genoss und den Worten unseres Bookers Zwady lauschte und sich über dessen Umtriebigkeit amüsierte; Schreiben, Lesen, Videos drehen, Moderieren, unser Booker hatte alles drauf. Tim tourte dabei immer wieder zwischen Lokal und Straße, um zu rauchen. Nach dem dritten Wein nutzte ich die Gelegenheit und legte mein Herz auf die Zunge. Ein Interview würde ich gerne mit ihm machen, ihn auch gerne dafür irgendwo besuchen, auf Lesereise, egal wo. Tim war gleich begeistert. „Klar, könntest du vielleicht auch nach Wien kommen? Dann machen wir das, gehen einen trinken und nehmen uns ein bisschen Zeit.“ Klar würde ich nach Wien kommen. Ich würde nach Barcelona kommen. Wien schien mir eine kurze Strecke für einen Besuch bei Tim, wenn man seinen durchschnittlichen Lebensradius betrachtet. Ich grinste mein Hank-Moody-Grinsen. War der Plan aufgegangen?

Die Kellner setzten uns irgendwann höflich aber durchgreifend vor die Tür. Da waren wir allerdings schon warmgelaufen. Dieser Abend sollte hier nicht enden. Nicht dieses Mal. Zwady und Speedy unterhielten sich aufgeregt über Fotografenhonorare und die Ehre des Freien. Tim, Ray und ich wollten noch was trinken. Um diese Zeit war die Auswahl an guten Bars, die das Rauchen erlaubten, bestenfalls erlesen. Eigentlich blieb uns nur eine Möglichkeit: Das Fat Louis. Der Vorteil: Es lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Nachteil: Oh, man, das Fat Louis! Aber egal. Wir mussten es nehmen, wie es kommt. Also stiegen wir in den Keller hinab, in den die Kneipe irgendwann mal eingemauert wurde. Von unten kam uns bereits das Gegröle der japanischen Wunderkiste entgegen, oder besser das der Sadisten, die es gerade bearbeiteten. Ein Plakat verhieß nichts Gutes: Karaoke Night im Fat Louis. Und wir waren dabei. Ray, Tim, Speedy, Zwady und Ich, ein Gitarrenkoffer, drei Kamerataschen und ein Hut, schief. Tim und ich gingen voraus. „Paderborn wird einfach völlig verkannt, total unterschätzt diese Stadt“, seine Augen glänzten vor Wein und Begeisterung. Dann trat ich auch schon die Tür zum Louis auf. Der Engländer brachte seinen Spruch mit der Band, was wohl hauptsächlich an Tim’s Gitarrenkasten gelegen haben muss. Speedy, Ray und Zwady folgten, Speedy eine Riesenkamera im Anschlag. Wir machten was her.


Tim würde singen. Das stand schon fest, bevor das Fat Louis eröffnet worden war. Die Kellnerin brachte uns einen Ordner mit Songs. Tim solle sich einen aussuchen und dann auf einen Zettel schreiben und zum DJ bringen, sagte sie, stellte dazu vier Bier ab und verschwand wieder zwischen den Engländern, die uns immer noch anstarrten. Speedy machte Fotos, Zwady redete von seinen nächsten Aufträgen, Tim blätterte in seinem Ordner voll Songs und Ray und ich prosteten uns zu. Der Plan war aufgegangen. Bei Stufe vier unserer Eskalationsskala angekommen, bestellten wir gleich die nächste Runde. Viel kann man uns Paderbornern vorwerfen, aber schlechte Gastgeber, nie. Tim hatte sich einen Song ausgesucht. Johnny Cash. Ray’s favorite. Es wurde immer besser. Auch wenn sie den Cash Song dann doch nicht hatten. No Woman, No Cry wurde es letztendlich und Tim, der mittlerweile auf Whiskey umgestiegen war, betrat um 1 Uhr nachts das zweite Mal an diesem Abend seine Bühne. Die Vorzeichen waren nur ungleich anders. Die Engländer applaudierten, die Kellnerin grinste verliebt und Speedy legte mit seiner Kamera los. Said I remember when we used to sit / In the government yard in Trenchtown. Tim war gut drauf, die Engländer grölten mit, der Text hakte hier und da, aber das war allen egal. Tim schwenkte seinen Whiskey beim Singen und wunderte sich über ein paar Textzeilen. Speedy schoss einen Film durch. Danach machten wir weiter.


Rum war das nächste Getränk der Wahl, auch wenn er nicht Tim’s 7-Jahre-Regel standhielt, ging er ganz gut runter. Tim hatte Blut geleckt. Stand jetzt nur noch mit mir bei der Karaoke-Maschine rum. „Wenn du nach Wien kommst, kannst du in der Wohnung von meiner Freundin schlafen, die pennt eh immer bei mir!“, rief er mir zu, während auf der Bühne drei dicke Engländer Unchained Melody rauswürgten und vor die Füße der Kellnerin spuckten. Speedy, Ray und Zwady eskalierten derweil in dem kleinen Separee, dass wir uns schon zu Beginn reserviert hatten. Plötzlich lief Elvis, Cant help falling in love, der Song für Karaoke“, meinte Tim, „daran musst du mich erinnern, für’s nächste Mal.“ Da brüllten wir auch schon beide mit. Zwady nahm’s auf mit seiner kleinen Kamera. Der Rest ist nur noch Rausch.

Um zwei war der Spaß vorbei. In Paderborn gibt es kaum Hotels mit 24 Stunden Rezeption. Wir brachten die beiden zu ihrem Gasthaus, verabschiedeten uns. „Paderborn wird völlig verkannt“, sagte Tim nochmal. Und verschwand mit Speedy auf seinem Zimmer. Ray und ich schauten uns ungläubig an. Und tun es immer noch. Jede Woche. Denken wir an diese eine Nacht außerhalb unserer Biografie. Und stoßen an, auf Helge, auf Frank, auf Zwady, mit Hut. Und leben unser Leben, im Schatten aller großen Abende dieser Welt. Aber was soll ich schon sagen. Ich bin nur ein junger Witz. Und schlafe ein.

*Hinweis – Veröffentlichung wurde genehmigt von Helge:

Nicht schlecht, Herr Specht.
Alles okay, Marvin, und der Abend war wirklich so…
Liebe Grüße
Tim

 

1 reply to Fell gewordenes LSD

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