Im Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche (einiges spricht für 2008) wohnte ich im Rahmen meines Studiums den September über in der Kleinstadt „Normal“ im nordamerikanischen Bundesstaat Illinois. Zwischen hektargroßen Kornfeldern und unter mehrstimmigem Grillengezirpe, das gegen Abend in Dezibel kaum noch zu messen war, konnte ich mir dort ein Bild von der unglaublichen Gastfreundlichkeit der Durchschnittsamerikaner machen, die sich hier um den „Korngürtel“ angesiedelt haben und die mit riesigen roten Pick-Ups in die Mall fahren, um eine Tüte Milch zu kaufen. Ich ging auf die Illinois State University und besuchte kultur- und literaturwissenschaftliche Kurse.
Eines Morgens saß ich mit meinen Gasteltern über Tellern voll Rührei und Speck und las in der örtlichen Tageszeitung, dem Pentagraph, wo der tragische Tod DFWs betrauert wurde, der anscheinend in der Nähe aufgewachsen war. Zudem hatte er anscheinend selbst ab 1992 an der Illinois State unterrichtet. Am selben Tag besuchte ich die Mittagssitzung eines creative writing Seminars der ISU, des Kurses, den Wallace zehn Jahre zuvor noch selbst unterrichtet hatte. Ich brachte den Zeitungsausschnitt in die Diskussion ein und musste feststellen, dass so gut wie alle DFW nur als Begriff kannten, als Bonmot, das man kennen sollte, die absolute Trumpf-Karte beim „Boheme-Name-Dropping“ im Uni-Pub. Niemand hatte auch nur ein Buch oder eine Geschichte von ihm gelesen. Selbst der Dozent, der sich hinter souverän verkauftem Halbwissen versteckte, schien völlig ahnungslos. So ging es so gut wie allen in der Stadt, die ich auf DFW ansprach. Viele bestätigten mir, er sei ein großer Künstler gewesen, keiner jedoch, hatte ihn jemals gelesen.
Am Schluss des Vorworts von Dave Eggers zur englischen Ausgabe von Unendlicher Spass aus dem Jahr 2006 ist folgende Passage zu finden:
He is from the Midwest – east-central Illinois, to be specific, which is an intensely normal part of the country (not far, in fact, from a city, no joke, named Normal). So he is normal, and regular, and ordinary, and this is his extraordinary, and irregular, and not-normal achievement, a thing that will outlast him and you and me, but will help future people understand us – how we felt, how we lived, what we gave to each other and why.
Während der Lektüre der englischen Ausgabe stellte ich mir die Bilder vor, die sich mir aus meiner Zeit im mittleren Westen eingeprägt hatten: die liebevoll gestalteten Holzverandas, die breiten Straßen, die anarchistischen Vorfahrtsregeln an Großkreuzungen; militante Demokraten und gemäßigte Republikaner, die sich in hunderten von kleinen Interessengruppen auflösen, die von „Illinois-Männer-gegen-häusliche Gewalt“ bis zum „Querflöten-Grüppchen“ reichen. Dass diese Durchschnittsgegend ein außergewöhnliches Werk wie dieses hervorbringen konnte, kommt für mich dem abgelutschten Bild vom amerikanischen Traum doch wesentlich näher, als jede Erfolgsgeschichte, die mit hohen Posten in leblosen Bunkern endet. Mit der englischen Ausgabe habe ich mich, zugegeben, etwas verhoben, und wahrscheinlich viele Dinge überlesen. Trotzdem ist mir der kleine Wälzer ans Herz gewachsen und ich freue mich über die Resonanz, die er in Deutschland erhält. Die ersten 100 Seiten der Übersetzung wirken so für mich persönlich wie die Restaurierung einer alten Sam Cooke Aufnahme, die ich jetzt endlich in aller Klarheit, die ihr gebührt, genießen kann.
Ich teile meine Leserfahrungen dabei mit den Profis auf Unendlicherspass.de , wo der Wälzer von Ausdauerbibliophilen in 100 Tagen gemeinsam gelesen wird. Meine Erfahrungen will ich jedoch auch hier im Blog noch ausführlicher berichten, und ausführen, wozu mir die Kommentarfunktion auf der Seite nicht ausreicht.