Ein Traum: Ich trete in die Pedale des rotkohlfarbenen Hollandrades meines Großvaters. Meine Beine sind gerade lang genug, dass ich bei beim Treten meine Füße nicht mehr abwechselnd vom Pedal nehmen muss. Es ist Sommer, die Eichenbäume in den Alleen wippen im warmen Wind. Ich bin in Spexard, genauer in der Neubausiedlung, in der der Bolzplatz lag, auf dem ich meine besten Fußballjahre verbracht habe. Sonst erkenne ich nichts, die Umgebung verschwimmt. An einer großen Wiese angekommen, werfe ich das Fahrrad in das kniehohe Gras, wo bereits andere Räder verstreut liegen. Ich schließe mich einer großen Gruppe von Leuten ohne Gesichtern an, die alle einen Film auf einer kleinen Leinwand schauen, den ich bereits kenne. Der Traum verzerrt, die Sonne scheint unterzugehen. Das Ende des Filmes ist begleitet von Stille, wie in dem Film „No Country For Old Men“, niemand spricht, als die Produktionsinformationen über den schwarzen Hintergrund rutschen. Doch alle sind sich einig, einen großartigen Film gesehen zu haben. Ich weiß bereits, dass er großartig ist, bevor er endet, ich habe ihn ja schon gesehen.
Plötzlich verlassen die Menschen die Wiese und ich bleibe zurück. Während der Vorführung hatte ich meine Schuhe ausgezogen, nach denen ich dann unter der Decke Suche, die ich auf dem trockenen, braunen Gras ausgebreitet hatte. Statt der Schuhe, in denen ich gekommen war und die ich angestrengt auf die Pedale gepresst hatte, finde ich alte Schuhe von mir, Schuhe, die ich trug, als ich eingeschult wurde. Sie passen nicht mehr, also laufe ich Barfuß zurück zu meinem Fahrrad. Auf dem Weg stolpere ich dann immer wieder über Schuhe. Schuhe, die ich irgendwann in meinem Leben getragen habe. Auch Schuhe, die ich hier mit in Amerika habe. Ich versuche so viele wie möglich davon auf meinen Gepäckträger zu spannen und springe auf den Sattel. Nach einigen angestrengten Tritten mit meinen nackten Füßen lasse ich das Fahrrad einfach rollen…und wache auf.
Diesen Traum hatte ich in der letzten Nacht. Vollgepumpt mit amerikanischen Erkältungspillen, die nur mit den polnischen Totschlagtabletten, die ich in Zabrze genommen habe, vergleichbar sind. Um 2:37 AM wachte ich auf und erinnerte mich sofort an den ganzen Traum, den ich sofort in mein amerikanisches Notizbuch notierte. Ich erinnere mich nie an Träume, wenn sie nicht mit Flugzeugabstürzen zu tun haben. Gibt es professionelle Traumdeuter unter meinen Lesern? Eine einleuchtende Erklärung für eben diesen als Kommentar in diesem Post wäre sehr hilfreich.
Auch jetzt bin ich immer noch „unter Drogen“. Mir geht es besser und nach einem Tag voller Schlaf, Fieber und vier Litern Wasser konnte ich den heutigen Freitag wieder bewusst erleben. Es war ein merkwürdiger Tag, der erste Tag, an dem ich ein ungewöhnliches Gefühl hatte. Ich fühlte mich zu Hause. Ich wachte um sieben Uhr auf und hatte noch drei Stunden bis zu meinem ersten Kurs. Becky kochte mir Kaffee und ich reizte die Cornflakesauswahl ein weiteres Mal aus. Dann schrieb ich eine vier Seiten lange Geschichte in mein Notizbuch. Dafür brauchte ich zwei Stunden.
Der Kurs um zehn Uhr war wie zu erwarten relativ langweilig. Doch ich hatte bereits den nächsten Punkt meiner Tagesplanung im Kopf: Meine Creative Writing Klasse. Da ich am Mittwoch nicht teilnehmen konnte, wurde ich heute herzlich empfangen. Die kleine Gruppe hat mich bereits so herzlich aufgenommen, dass ich vermisst wurde. Wir schrieben eine Story, die bestimmte Inhalte aufgreifen sollte, die wir nun am Wochenende beenden sollen. Danach besprachen wir die Stücke zweier Studenten. Eines war in Tagebuchform geschrieben. Der Stil war eine Mischung aus Jack Kerouac und Holden Caulfield. Wir hatten eine unglaublich tiefe Diskussion. Leider geht der Kurs immer nur 45 Minuten, doch danach ging ich noch mit einigen der Schreiber einen Kaffee trinken. Mit Leuten über das Schreiben zu reden fehlt mir in Deutschland sehr. Nicht das Schreiben, wie ich es hier auf meinem Blog praktiziere. Ich lese meine Blogtexte nur selten ein zweites Mal durch, was man ihnen wahrscheinlich auch anmerkt. Doch das, was ich mit „Pulp“ schon angedeutet habe und was ich mit weiteren kostenlosen Downloads fortführen werde, bedarf einer Auseinandersetzung, die ich in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht finde.
Um 6 PM gab es heute eine kostenlose Filmvorstellung in der Uni. Der Drachenläufer wurde gezeigt, ein schöner Film, auch zu empfehlen, wenn man das Buch nicht gelesen hat. Doch auch das sollte man tun.
Mehr als die Hälfte meiner Zeit in Amerika ist bereits vergangen; sehr schnell vergangen. Viele Dinge werde ich erst realisieren, wenn ich zurück in Deutschland bin und zurück blicke. Einige Dinge werden mir jedoch auch hier schon bewusst.
„Ich bin nicht mehr derselbe, zumindest in meinem tiefsten Innern nicht.“ So endet Ernesto Guevaras Vorwort zu seinem Tagebuch der ersten Lateinamerika-Reise Anfang der Fünfziger. Ich hatte mir vorgenommen, diesen Satz am 27. September im Flugzeug sitzend auf den Rücken meines Notizbuches zu ritzen. Doch ich muss einsehen, dass man einen Sturkopf wie mich wohl nicht ändern kann, nein nicht ändern muss. Schon garnicht in vier Wochen. Denn egal wo man ist, ist man doch trotzdem immernoch mit sich allein. Und ob ich unter fiepsendem Grillengezirpe im amerikansichen Korngürtel den großen Wagen am Himmel stehen sehe, oder um drei Uhr morgens in einen Bademantel gewickelt auf meinem Balkon, das Sternbild und mein Gefühl bleiben dieselben.
Doch mit einer Frage hatte der „Fuser**“ recht: „Was ist das, was wir beim Überqueren einer Grenze verlieren? Jeder Moment hat zwei Seiten: eine voller Melancholie; und eine voller Begeisterung und Vorfreude auf neue unbekannte Länder.“
* Fancotirador: „Freischärler“
** Che Guevara wurde in Argentinien „El Fuser“, der Zünder genannt