Man sieht sie mit versehrtem Gesicht zwischen Tränengasdosen. Hinter ihr knien Protestanten in schwarzen Kapuzenpullovern auf dem Asphalt und bilden einen Kreis um das Friedenszeichen, das sie mit den Dosenkappen auf der Straße aufgestellt hat. Ihre zarten Züge tragen Entschlossenheit und Wucht in sich, eine Wucht, die seit Jahren kein vermummter Redelsführer mehr zu entwickeln im Stande war, in einem Land in dem die Reichen und die Armen so weit auseinander liegen, wie nur in wenigen Ländern dieser Welt. (zuerst gepostet im November 2012)
Auf dem nächsten Bild sieht man sie mit weichen Lippen in Melancholie, einen lila Schirm über ihrem schwarzen Haar aufgespannt. Ihr Blick wie aus einer französischen Tragikomödie.
Camila Vallejo, die zweite Frau, die jemals zur Vorsitzenden des chilenischen Studierendenverbandes gewählt wurde, schmückt seit Wochen die Cover der internationalen Presse. Mal aufreizend lieblich, mal in energisch argumentierender Pose “mit einem Blick wie Che Guevara.” (Peter Burghardt, Süddeutsche) Sie gilt als eine der Kernfiguren bei den aktuellen Protesten in Chile, die eine umfassende Reform des Bildungswesens fordern. Der monatliche Studienbeitrag liegt derzeit noch höher als das Durchschnittseinkommen in Chile, weshalb die Studenten in der Regel hochverschuldet ins Arbeitsleben starten. Ein Schuldenberg, der dann in den darauf folgenden Jahren weiter anwächst, statt geringer zu werden.
Vallejo ist seit einem guten halben Jahr im Auge der chilenischen Öffentlichkeit. Protestierte sie zu Beginn noch mit 900 Leuten aus ihrem studentischen Umfeld, erreicht sie mittlerweile Hunderttausende, die ihrem Wort und ihrem Zauber folgen, was zu den größten Protesten der letzten Jahre geführt hat. Das Auge der Öffentlichkeit nimmt sie aber nicht nur wohlwollend in den Blick. Vor allem die Mitglieder der neoliberalen Regierung um Präsident Piñera, einem der wohlhabendsten Männer des Landes, der den Großteil seines Vermögens während der Pinochet-Dikatur erwirtschaftet hat, fühlen sich von der Macht der FECH-Vorsitzenden bedroht. Piñeras Umfragewerte, zu Zeiten des Bergarbeiterunfalls im letzten Jahr noch auf einem Hoch, sind in den letzten Wochen auf niedrige 26% gesunken. Das Volk traut der Regierung nicht mehr. “Und da reichen auch keine Reformen des aktuellen Systems”, sagt Vallejo in einem Interview. Ein großer Umsturz auch jenseits des Bildungswesens wird mit zunehmender Vehemenz gefordert.
Die “Pinguine” der Bewegung von 2006 sind ausgewachsen und bringen die Regierung unter Druck. Mit Menschen wie Camila Vallejo finden sie Gehör. Denn alles scheint auf ihre Stimme zu achten. Ihr Äußeres nutzt sie dabei als Mittel zum Zweck. “Ich habe mir mein Aussehen nicht ausgesucht”, sagte sie dem Magazin Paula, “sehr wohl aber mein politisches Projekt!” Manchmal wirkt sie dann wie ein zarter Vogel. Wie der Vogel, den die Bergarbeiter früher mit unter die Erde nahmen. Wenn der Vogel aufhörte zu singen, wussten die Arbeiter, dass die Luft knapp wurde. Aber im chilenischen Winter weht ein beständiger Wind. Ein Wind, der das Establishment an die Luft setzen könnte. Foto: lamula.pe Quellen und weiterführende Links: The Guardian, Süddeutsche, TAZ, Wiener Zeitung, Broowaha