Lück und Locke in Europa

Locke schlägt an, sobald man am Fenster des blauen VW-Busses vorbei läuft. Wenn man zuvor Oliver Lücks Neues vom Nachbarn: 26 Länder, 26 Menschen gelesen hat, weiß man aber: Locke bellt, das liegt ihr als Hofhund (Hovavart) im Blut, nur aus Prinzip.

20 Monate war Journalist Lück mit seiner Hündin Locke in Europa unterwegs. Als sie losfuhren war sie noch ein Welpe, doch „mit der Zeit wurde Locke immer größer und der Bus immer kleiner“. Später diente Locke mehr und mehr als Wachhund und Gesprächspartner für Lück, der für seine Kolumne bei Spiegel Online auf der Suche nach Geschichten war, Geschichten aus Europa, Geschichten von und über Menschen aus verschiedensten Ländern. „Zu Anfang bin ich einfach losgefahren“ sagt Lück, „und habe geguckt, wen ich treffe. Damals hatte ich auch noch meine Kolumne ‚Lück und Locke‘, ich wollte zwei Texte pro Monat liefern. Ich war also auf der Suche, was ja auch den eigentlichen Grund ausmacht, weshalb man sich auf so eine Reise begibt. Man möchte neue Sachen kennen lernen, fremde Länder und Regionen. Aber im Endeffekt läuft es doch immer wieder auf die Menschen hinaus, die man trifft. So ist es immer gewesen. So verbindet man spezielle Orte immer auch mit bestimmten Menschen, die diesen Ort für einen ausmachen.“

„Der Journalist fährt immer mit.“

Die Reise, die er schon länger geplant hatte, war für Lück eine Mischung aus Urlaub und Arbeit. Lück sagt: „Der Journalist fährt immer mit.“ Das Schreiben diene in gewisser Weise als die direkte Verarbeitung seiner Erlebnisse, auch wenn er unterwegs nur die Kolumnen schrieb, die er für Spiegel Online lieferte. Denn auch das gehörte zum Plan: Die Reise im Anschluss noch einmal zu machen. Durch die Interviewmitschnitte und Notizen und das Verfassen der Texte die Strecke noch einmal gedanklich abzufahren und neu zu erleben.

Die genaue Route entstand spontan und an den Jahreszeiten ausgerichtet. „Ich wusste, dass es erstmal Richtung Tschechien geht, Richtung Osteuropa“, sagt Lück, „wobei schnell klar war, dass ich dann Richtung Norden fahren wollte, um den Sommer dort noch zu verbringen. Wir haben keine Heizung im Bus und so haben die Jahreszeiten die Route mehr oder weniger vorgegeben.“ Dazu waren nur wenige der Interviews im Vorfeld geplant, Lück ließ sich auch da überraschen: „Ich habe die Menschen gefragt, wer im Dorf vielleicht eine interessante Geschichte zu erzählen hätte. Manchmal kam man auch durch die Konstellation ins Gespräch, ich und Locke allein im VW Bus unterwegs, das interessierte viele, die dann fragten, was ich mache. Einige Interviewpartner standen auch schon vorher fest. Das war aber nie so genau geplant, dass ich gesagt hätte ‚in fünf Monaten bin ich bei dir, dann können wir das Interview machen‘, das lief alles mehr oder weniger spontan.“

Eine Geschichte aus jedem Land

Schnell merkte Oliver Lück, dass die Gespräche, die er führte, den Rahmen seiner monatlichen Kolumnen sprengten. Einige seiner Gesprächspartner ermutigten ihn zu einer neuen Idee: „Relativ schnell kam der Gedanke und auch die Aufforderung, ‚mach doch ’nen Buch draus‘. Die Geschichten, die ich fand und die Menschen, denen ich begegnete, waren so interessant und konnten so viel erzählen. Und das Konzept stand relativ schnell: Eine Geschichte aus jedem Land, mit meiner ganz eigenen geografischen Chronologie.“

Susanne Wiigh-Mäsak will die Bestattungsindustrie revolutionieren

Zu den meisten seiner Gesprächspartner hat Lück immer noch Kontakt, „das geht von einer Mail pro Monat bis zu mehreren die Woche“, erzählt er, „gerade jetzt wo das Buch herauskommt.“ Auch Susanne aus Schweden schreibt ihm regelmäßig. Mit einer völlig neuartigen ökologischen Bestattungsmethode, die die Umwelt schont und die Würde des Menschen respektiert, stößt sie derzeit auf weltweites Interesse. Ihre Methode, auch Promession genannt, hat sie auf der Basis von Kryotechnik entwickelt. Dabei wird der Körper mit flüssigem Stickstoff schockgefrostet und anschließend die Feuchtigkeit entzogen. Er zerfällt zu einem 100 Prozent biologisch abbaubaren Granulat, das in einer kompostierbaren Urne vergraben und innerhalb weniger Monate zu Humus werden kann. „Ein komplizierter Prozess“, sagt Lück, „doch das Komplizierteste daran ist die politische Ebene. Susanne bekommt heftigen Gegenwind aus der Bestattungsindustrie. Das verwundert nicht. Es gibt bereits Interesse aus unzähligen Ländern auf der ganzen Welt. Susannes Verfahren wird die Bestattungsindustrie auf den Kopf stellen. Klar, dass da einige etwas dagegen haben.“

Chilibauer André Curutchet liebt das Gefühl, wenn die Schote zurückbeißt.

So faszinierend Lücks Geschichten sind, so unterschiedlich sind sie auch. Da gibt es den Chilibauern aus dem Baskenland, der das Gefühl liebt, „wenn seine Schoten zurückbeißen“, den Bürgermeister aus England, der zuvor als Affe verkleidet seinem Fußballclub durch die Provinzen nachreiste und sich nur aus einer Bierlaune heraus zur Bürgermeisterwahl aufstellen ließ, den Schweizer, der in den Bergen indische Filmteams betreut, die das Bergpanorama für ihre massenproduzierten Bollywood-Streifen nutzen. Lück findet in jedem Land eine faszinierende Lebensgeschichte, manchmal auch Menschen, die nicht nach Geschichten suchen wie er, sondern auf die Geschichten warten und deshalb selbst zu einer werden: Biruta Kerve sammelt an der Küste Lettlands alles was die Ostsee ihr vor die Haustür spült. Darunter sind mittlerweile 35 Flaschenpostbriefe, die sie sorgfältig abheftet und katalogisiert, um sie dann zu verstauen. „Das ist ja das erstaunliche an dieser Geschichte“, sagt Lück, „sie hat nie einen der Briefe beantwortet. Sie sammelt nur und zeigt sie jedem, der sie sehen will.“ Auch Birutas Garten ist mittlerweile zur Attraktion geworden, ihre bunten Sammelschaften aus dem Meer haben etwas von einer skurrilen Kunstausstellung.

Flaschenpost für Biruta Kerve

Viele der Lebensgeschichten, die Lück in seinem Buch erzählt, sind zudem angetrieben von einer ungebrochenen Lebensromantik. Romantik im Sinne von sehnsüchtiger Verfolgung eines fast unerreichbaren Ziels. „Ich würde das nicht Romantik nennen“, widerspricht Lück, „eher Leidenschaft. Leidenschaft für eine Sache, ein Ziel. Diese Leidenschaft ist es ja gerade, die eine Geschichte oder einen Menschen interessant macht, so dass man über ihn schreiben möchte.“ Das bleibt das angenehme an Lück und seinen Texten. Wenn man an den Mann denkt, der alleine mit seinem alten VW-Bus über die Straßen Europas streicht, könnte man ein sentimentales Buch erwarten, gespickt mit Momenten der Selbsterfahrung und Selbstbeweihräucherung. Lück allerdings, nimmt sich raus aus seinen Geschichten, tritt nur als Erzähler auf, als Interviewer, der sich mit faszinierter, aber genau so disziplinierter Neugier auf jeden seiner Gesprächspartner einlässt. Dadurch ist „Neues vom Nachbarn – 26 Länder, 26 Menschen“ persönlicher geworden als die meisten Ich-Reportagen-Sammlungen. Gerade weil man den 27. Menschen nur zwischen den Zeilen findet.

LueckundLocke.de

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