I. Interior
Wie einige von euch mitbekommen haben, war ich die letzten beiden Wochen mit meinem Auto in Südfrankreich und Spanien unterwegs. Neben meiner Sucht nach Meer und Bewegung ist während dieser Zeit auch deutlich geworden, dass die Fotografie mittlerweile aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken ist.
Neben dem Fakt, dass meine Kamera fast zwei Wochen über meiner Schulter hing und ich die kleinen Küstenstraßen kurz und klein fotografiert habe, wurde meine Zeit unterwegs auch vom Nachdenken über Fotografie bestimmt – Fotografinnen und Fotografen, Shooting Ideen, Models, Mode, alles ging mir durch den Kopf. Wie es dann der Zufall will, betrete ich während eines Stops in Aix en Provence einen kleinen Buchladen, um nach einem kleinen Wörterbuch zu schauen und entdecke im Vorbeigehen auf einem Tisch die Bände „Early Black and White“ von Saul Leiter, die ich schon in Deutschland sehnsüchtig erwartet hatte, seit sie im letzten Jahr angekündigt wurden. Saul Leiters Veröffentlichung „Early Color“ ist mein liebstes Street Fotografie Buch und ein kleines Kunstwerk für sich.
Ich konnte einfach nicht widerstehen. Der Doppelband wanderte in meinen Rucksack und begleitete mich fortan auf meiner Reise. In Cafés und Restaurants, auf Parkbänken und Campingstühlen, auch im Zelt beim Licht meiner Taschenlampe und im Auto, während dicke Regentropfen auf das Fenster schlugen, das Buch gehört für mich zu den letzten zwei Wochen wie die Fotos, die ich selbst geschossen habe.

Das Buch ist in zwei Bände aufgeteilt, „I. Interior“ und „II. Exterior“. Bei „Exterior“ handelt es sich vorwiegend um Street Aufnahmen aus den 40er und 50er Jahren. Der Band „Interior“ ist nicht so leicht zu definieren. Eigentlich fühlt er sich beim ersten Durchblättern an wie eine visuelle Biografie des Fotografen in seinen jungen Jahren. Seine Familie spielt eine große Rolle, die Mutter, der Bruder, Bekannte. Dann sind da noch die vielen Mädchen und Frauen, von denen man nie weiß, ob es Models oder Freundinnen oder Geliebte sind. „Interior“ heißt formal jedoch auch, dass es sich fast ausschließlich um Aufnahmen in geschlossenen Räumen handelt. Den Wohnungen seiner Eltern, befreundeter Künstler, die eigene Wohnung. Er arbeitet ausschließlich mit vorhandenem Licht und den Gegenständen, die er zur Verfügung hat. Die spielerische Komposition, die schon „Early Color“ ausmachte, findet sich auch in diesen Schwarz-Weiß Fotos, allerdings wirkt sie manchmal (was in der Natur des Settings liegt) ein wenig gewollt. Das sind allerdings die Ausnahmen. Der Band „Exterior“ liegt fast noch unberührt auf meinem Schreibtisch. Zu sehr haben mich die Aufnahmen aus „Interior“ in ihren Bann gezogen.
Die Stimmung, die Menschen, der Fotograf, der in jedem einzelnen der Fotos so gegenwärtig ist wie bei seinen Selbstportraits. Ich konnte die Zeit fast riechen und die Menschen begannen in meinem Kopf zu leben und jedes Bild wurde vor meinen Augen zu einer Geschichte oder ich stellte mir die Unterhaltungen vor, die während der Aufnahmen stattgefunden haben könnten. Wer war diese Fay mit dem durchdringenden Ausdruck, die ihm vor beinahe 70 Jahren erlaubt hat, dieses Bild zu schießen?

Ich kann auch jetzt noch nicht von dem Buch lassen und sitze auch heute Abend wieder vor den Bildern und stelle mir vor, wie Saul eines Tages seine spätere Frau Soames kennenlernte, die ebenfalls ein wichtiger Teil zum Schluss des Interior Bandes ist, und wie sie an ihn glaubte und wie sich erst zum Schluss seines langen Lebens alles zu einem Ganzen zusammenfügte. Saul starb Ende letzten Jahres und war von seinem späten Ruhm relativ unberührt geblieben. Er hat das zwar alles registriert, aber es schien ihm egal. Nicht nur seine Bescheidenheit und seine Ausdauer machen ihn zu einem meiner Lieblingsfotografen. „Early Black and White“ war (glaube ich) der letzte Band, den er selbst mitgestaltet hat. Irgendwie hoffe ich, dass es seine Nachlassverwalter dabei belassen. Die Farbbilder und diese beiden Bände sind eine so unfassbare Welt in sich, die als abgeschlossener Kosmos ihre Berechtigung hat und für sich stehen sollte. Saul wäre das genug gewesen.
„Early Black and White“ von Saul Leiter ist im Steidl Verlag erschienen als Co-Veröffentlichung mit der Howard Greenberg Library. Editiert von Max Kozloff und mit einem Essay von Jane Livingston versehen kosten die beiden Bände 64 Euro.
Schaut Euch unbedingt auch die Dokumentation „In no great hurry“ an, wenn Ihr mehr über Saul erfahren wollt. Schon der Trailer bringt einem diesen außergewöhnlichen Menschen ein kleines Stück näher. Die Dokumentation kann man online schauen für umgerechnet ein paar Euro: innogreathurry.com